Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse

Dr. iur. Welf Kienle

Maßgebliche Rechtsvorschrift für das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse ist § 278 StGB. Dem Vorwurf können sich neben Ärzten auch andere approbierte Medizinalpersonen, also etwa Zahnärzte oder psychologische Psychotherapeuten ausgesetzt sehen. Ob auch Heilpraktiker den Tatbestand des § 278 StGB erfüllen können, wird unter Juristen uneinheitlich bewertet. Nach meiner Auffassung ist das jedoch nicht der Fall, weil Heilpraktiker die Heilkunde „berufsmäßig ohne Bestallung“ ausüben und damit gerade nicht approbiert sind. Auch medizinische Fachangestellte, Pflegepersonal oder Heilpraktiker bleiben tatbestandlich ausgeschlossen – für sie kommt aber eine Strafbarkeit nach § 277 StGB (Unbefugtes Ausstellen von Gesundheitszeugnissen) in Betracht.


§ 278 StGB soll die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden und Versicherungsgesellschaften sichern. Seit der Neufassung durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes vor Impfpassfälschungen vom 24.11.2021 lautet der Tatbestand: „Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr als Arzt oder andere approbierte Medizinalperson ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausstellt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“


Strafrechtlich relevant werden inhaltlich unrichtige Gesundheitszeugnisse, wenn der objektive und subjektive Tatbestand erfüllt ist.

Bereits berufsrechtlich ergibt sich bei der Ausstellung ärztlicher Zeugnisse oder Gutachten für Ärzte aus § 25 MBO die Pflicht, mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren und nach bestem Wissen ihre ärztliche Überzeugung auszusprechen. Strafrechtlich genügt nach heute geltendem Recht bereits dolus directus 2. Grades; ein Handeln „wider besseres Wissen“ wird vom aktuellen Gesetzeswortlaut nicht mehr vorausgesetzt.



Zeugnisse über den Gesundheitszustand


Zeugnisse über den Gesundheitszustand im Sinne des § 278 StGB sind Bescheinigungen ebenso über den gegenwärtigen Gesundheitszustand eines Menschen, wie über frühere Krankheiten, ihre Spuren und Folgen oder über Gesundheitsaussichten, wobei auch Angaben tatsächlicher Natur, etwa über erfolgte Behandlungen bzw. deren Ergebnis erfasst sind. Nach überwiegender Auffassung ist die Angabe einer Diagnose zur Annahme eines Zeugnisses über den Gesundheitszustand im Sinne der Vorschrift nicht erforderlich. Der Wortlaut des § 278 StGB spricht zwar zunächst für die Anknüpfung an rein diagnostische Aussagen, ausgehend vom Schutzzweck der Norm wird jedoch argumentiert, dass für die geschützten Entscheidungsträger nicht nur die konkrete Diagnose, sondern jede für ihre Entscheidung gesundheitsrelevante Tatsache von Bedeutung sei. Die zu treffende Entscheidung beruhe regelmäßig gerade nicht nur auf der reinen Diagnose, sondern auf einer Auseinandersetzung mit den Ursachen, Symptomen, Ausprägungen und Folgen der Feststellungen zum Gesundheitszustand.


Somit kommen als Zeugnisse über den Gesundheitszustand unter anderem


  • Krankenscheine
  • Impfscheine (inkl. COVID-19-Impfbescheinigungen und Impfunfähigkeitsnachweise)
  • Berichte über Blutalkoholuntersuchungen
  • Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
  • gutachterliche Äußerungen (z. B. für Versicherungen, MPU)
  • Atteste (auch z.B. Maskenbefreiungen)
  • Durchgangsarztberichte


in Betracht.


Nicht erfasst sind hingegen Totenscheine, da die Vorschrift an Bescheinigungen über den Gesundheitszustand lebender Menschen anknüpft. Auch ärztliche Rezepte sind nach herrschender Meinung nicht erfasst, da sie regelmäßig keine Bewertung des Gesundheitszustands enthalten.


Ein Gesundheitszeugnis ist ausgestellt, wenn es körperlich oder elektronisch hergestellt und durch eine Unterschrift oder qualifizierte elektronische Signatur mit der erkennbaren Verantwortungsübernahme des Arztes (oder der Medizinalperson) versehen ist. Die Vollendung liegt erst mit der Entäußerung in den Rechtsverkehr vor. Auch eine bloße Übergabe an Praxispersonal kann diesen Moment bereits markieren.



Unrichtigkeit


Weitere Voraussetzung zur Verwirklichung des Tatbestands ist, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist. Dies ist der Fall, wenn wesentliche Feststellungen nicht im Einklang mit den Tatsachen stehen oder nicht mit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft in Einklang zu bringen sind. Auch Aussagen „ins Blaue hinein“ – ohne ausreichende Tatsachengrundlage – gelten als unrichtig. Dabei genügt es, wenn auch nur einzelne Komponenten des Zeugnisses objektiv falsch sind; eine Gesamtunrichtigkeit ist nicht erforderlich.


Es ist also nicht ausreichend, dass irgendeine Angabe in dem Zeugnis unzutreffend ist. Die unrichtige Angabe tatsächlicher Art muss vielmehr einen wesentlichen Bestandteil des Zeugnisses bilden, also für die Beurteilung erheblich sein, was von den Umständen des Einzelfalls abhängt.


Unrichtig ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs außerdem ein Gesundheitszeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstellt, weil es ausgehend vom Schutzzweck des § 278 StGB als Beweismittel ebenso wertlos sein soll wie ein Zeugnis, das bei einer Untersuchung festgestellten Gesundheitszustand falsch darstellt:

„Nach § 278 StGB macht sich ein Arzt strafbar, der ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseren Wissens ausstellt. Hierunter fällt auch die Ausstellung eines solchen Zeugnisses ohne Untersuchung. Denn die Vorschrift soll die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden und Versicherungsgesellschaften sichern; ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstellt, ist als Beweismittel ebenso wertlos wie ein Zeugnis, das nach Untersuchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt.“
BGH, Urteil vom 8. November 2006 – 2 StR 384/06

Die Unrichtigkeit kann sich also sowohl auf den Befund als auch auf die Beurteilung beziehen. Nach dieser Maßgabe ist ein Gesundheitszeugnis sogar dann unrichtig, wenn der ärztlich attestierte Sachverhalt möglicherweise der Wahrheit entspricht – entscheidend ist vielmehr, dass dem Zeugnis die methodisch saubere Feststellung zugrunde liegt. Der besondere Beweiswert ärztlicher Zeugnisse ergibt sich gerade aus der Erwartung einer objektiven, fachlich fundierten und unabhängig ermittelten Einschätzung.


Wann eine solche, dem Fall angemessene Unterrichtung vorliegt, lässt sich nicht schematisch beantworten. Zwar ist regelmäßig eine persönliche Untersuchung des Patienten erforderlich – insbesondere bei Attesten gegenüber Behörden oder Versicherungen. Es kann jedoch Ausnahmen geben, etwa bei chronisch bekannten Krankheitsbildern, stabilen Verläufen, psychischen Leiden oder medizinisch kontraindizierten physischen Untersuchungen. In diesen Fällen muss sich der Arzt jedoch vergewissern, dass die vom Patienten mitgeteilten Beschwerden in ein schlüssiges, plausibles Gesamtbild passen – und diese Einschätzung im Zeugnis dokumentieren.


In einer grundlegenden Entscheidung hat das Oberlandesgericht Frankfurt betont, dass der Maßstab insbesondere bei Attesten gegenüber staatlichen Stellen höher anzusetzen ist:

„Hält der Arzt seinen Patienten für vertrauenswürdig und für intel­lektuell befähigt, seine Beschwerden hinreichend an­schau­lich zu schildern, und fügen sich die geschilderten Symptome widerspruchsfrei in ein bestimmtes Krankheitsbild ein, so darf der Arzt sicherlich auf diese Weise einen „Befund“ erheben, zumal die ärztlichen Gebührenordnungen (…) solche Leistungen für liquidationsfähig erklären. Erweist sich eine so gewonnene Diagnose als falsch, so wird nur der einzelne Patient in seinem Interessenbereich berührt. (…)
Anders ist der (im Gesetz übrigens nicht vorkommende) Begriff der „Befunderhebung“ jedoch zu verstehen, wenn es sich um ein für eine Behörde – hier das Gericht – ausgestelltes ärztliches Zeug­nis über den Gesundheitszustand eines Menschen iS des § 278 StGB handelt. Daß dieser Begriff hier zweckbestimmt (teleologisch) ausgelegt werden muß, folgt schon aus allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätzen. Auch für den Arzt ist aber aus einer solchen gerichtlichen Aufforderung ohne weiteres ersichtlich, daß der Vertrauensgrundsatz zwischen Arzt und Patient, der im Innenverhältnis gelten mag, in dem konkreten Fall im Verhältnis Gericht/Patient nicht gilt, daß vielmehr das Mißtrauen des Richters in die persönlichen Angaben des Erscheinungspflichtigen über eine angebliche Erkrankung gerade der Anlaß für das Verlangen einer ärztlichen Bescheinigung ist. Das Gericht benötigt in solchen Fällen erkennbar gerade eine sachkundige Kontrolle solcher Angaben, nicht nur die Bestätigung, daß ähnliche ungeprüfte Angaben auch gegenüber dem Arzt gemacht worden sind und daß sie sich unter einen bestimmten Krankheitsbegriff einordnen lassen könnten“
OLG Frankfurt, Urteil vom 4. Mai 1977 – 2 Ss 146/77

Nach Auffassung des Gerichts wäre es in einem solchen Fall erforderlich gewesen, das Attest mit einem Hinweis zu versehen – etwa: „nach glaubhaften telefonischen Angaben des Patienten“. Andernfalls erweckt es einen nicht gerechtfertigten Anschein tatsächlicher eigener Feststellung.



Täuschung im Rechtsverkehr


Die Neufassung des § 278 StGB hat den bislang enger gefassten Adressatenkreis („zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft“) erheblich erweitert. Strafbar ist nunmehr bereits das Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses „zur Täuschung im Rechtsverkehr“. Dies erfasst sämtliche denkbaren Verwendungen gegenüber Dritten, die sich auf den Gesundheitszustand verlassen – etwa auch Arbeitgeber, Bildungseinrichtungen oder private Vertragspartner.


Der Begriff des Rechtsverkehrs ist weit zu verstehen und umfasst jede Situation, in der ein Gesundheitszeugnis dazu geeignet ist, bei Dritten eine rechtlich relevante Disposition auszulösen. Damit sind beispielsweise auch Atteste über Arbeitsunfähigkeit, Impfbefreiungen oder Sporttauglichkeit gegenüber privaten Stellen vom Tatbestand erfasst. Die Neuregelung stellt insofern eine erhebliche Ausweitung dar.



Vorsatz und Täuschungsabsicht


Für die Strafbarkeit nach § 278 StGB ist neben der Erfüllung des objektiven Tatbestands Vorsatz erforderlich, der sich auf sämtliche Merkmale des objektiven Geschehens bezieht. Der Täter muss insbesondere wissen, dass das ausgestellte Gesundheitszeugnis unrichtig ist und dass es zur Täuschung im Rechtsverkehr eingesetzt werden soll.


Der frühere Gesetzeswortlaut verlangte ausdrücklich ein „Handeln wider besseres Wissen“. Mit der Neufassung 2021 wurde dieses Erfordernis gestrichen. Es genügt also mittlerweile, wenn der Aussteller weiß, dass der Inhalt objektiv nicht zutreffend ist.



Rechtsfolgen und Strafzumessung


§ 278 StGB sieht eine Strafandrohung von Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe vor. In der Praxis überwiegen Geldstrafen, insbesondere bei Ersttätern ohne einschlägige Vorbelastung.


Seit der Reform 2021 ist in § 278 Abs. 2 StGB ein besonders schwerer Fall geregelt. Dieser liegt insbesondere vor, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. Die Strafandrohung erhöht sich in diesen Fällen auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren.


Ein gewerbsmäßiges Handeln liegt nach der Legaldefinition dann vor, wenn der Täter sich durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und gewisser Dauer verschaffen will.


 

Informationen zum Medizinstrafrecht

von Dr. iur. Welf Kienle 8. Mai 2025
Die strafrechtliche Verfolgung von inhaltlich falschen Abrechnungen im Gesundheitswesen ist regelmäßig geprägt von einer strukturellen Spannung: Auf der einen Seite stehen komplexe, oft unklare Abrechnungsvorgaben; auf der anderen das scharfe Schwert des § 263 StGB. Der Tatbestand des Betruges wird auf das ärztliche oder therapeutische Abrechnungsgeschehen in zunehmender Breite angewendet – auch dort, wo das ärztliche oder organisatorische Fehlverhalten weniger mit echtem Täuschungswillen als mit unklaren Regelungsrahmen oder formalistischen Hürden zu tun hat. Betroffen sind sämtliche Gruppen von Leistungserbringern im Gesundheitswesen: Vertragsärzte, privatliquidierende Wahlärzte, Zahnärzte, Heilmittelerbringer, Pflegedienste, MVZ und Krankenhausgesellschaften. Strafrechtliche Ermittlungen erfolgen häufig infolge von Prüfverfahren der Kassenärztlichen Vereinigungen, Auskünften der Abrechnungsstellen oder über Hinweise von Patienten oder Mitarbeitenden. Gerade im vertragsärztlichen Bereich entfaltet die Plausibilitätskontrolle (§ 106d SGB V) eine erhebliche Anstoßwirkung für Ermittlungsverfahren – oftmals ohne Rücksicht auf die strafrechtlich gebotene Differenzierung von Fahrlässigkeit und Vorsatz. Täuschung Die zentrale Tathandlung des § 263 StGB ist die Täuschung über Tatsachen. Dabei kommt es nicht auf die Form der Täuschung an – sie kann ausdrücklich, konkludent oder durch Unterlassen erfolgen. Für Abrechnungsfragen typisch ist die konkludente Täuschung durch Einreichung einer Abrechnung (Sammelerklärung, GOÄ-Rechnung). Im ärztlichen Bereich ist mit der Abrechnung nicht nur die Erklärung verbunden, zur Abrechnung berechtigt zu sein, sondern zugleich die sinngemäße Behauptung, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der zugrunde liegenden Rechtsnormen eingehalten wurden: „Auch soweit der Angeklagte (…) nicht selbst erbrachte ärztliche Leistungen als eigene hat abrechnen lassen, behauptete er nicht lediglich, zu deren Abrechnung berechtigt zu sein, sondern auch (…), dass die Voraussetzungen der der Abrechnung zugrundeliegenden Rechtsvorschriften eingehalten worden seien. Dies entspricht gefestigter Rechtsprechung zum Abrechnungsbetrug bei Vertragsärzten (…), für privatliquidierende Ärzte gilt nichts anderes.“ BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1 StR 45/11 Für den Bereich der Vertragsärzte bedeutet dies: Mit der Sammelerklärung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wird nicht nur der Inhalt der Abrechnung bestätigt, sondern auch – konkludent – deren formale und persönliche Richtigkeit. Dies umfasst unter anderem: die persönliche Leistungserbringung (§ 15 Abs. 1 BMV-Ä), die Wirtschaftlichkeit (§ 12 SGB V), das Einhalten der Abrechnungsbestimmungen des EBM. Die Täuschung kann auch durch Unterlassen erfolgen, insbesondere wenn der Arzt eine Pflicht trifft, die Unrichtigkeit früherer Abrechnungen zu korrigieren. Auch die unterlassene Offenlegung einer Leistungserbringung durch nicht berechtigte Personen (z. B. Strohmannkonstellation) kann als Täuschung durch Unterlassen strafrechtlich relevant werden. Im Bereich privatärztlicher Leistungen nach GOÄ gilt dasselbe. Auch hier nimmt der Bundesgerichtshof an, dass die Erstellung einer Rechnung über privatärztliche Leistungen die konkludente Behauptung beinhaltet, dass diese entsprechend den formellen Anforderungen der GOÄ abrechenbar sind – insbesondere was Indikation, persönliche Leistungserbringung, Steigerungsfaktoren und ggf. Analogziffern betrifft. Typische Fallgruppen der Täuschung: Abrechnung von Leistungen durch nicht berechtigte Leistungserbringer (z. B. durch MFA ohne Anleitung), unzulässige Analogbewertungen (§ 6 Abs. 2 GOÄ), willkürliche Steigerungsfaktoren ohne nachvollziehbare Leistungsbegründung, Abrechnung bereits durch Pauschalen abgegoltener Leistungen (z. B. mehrfach angesetzte Gesprächsleistungen), Abrechnung durch MVZ-Leitung, obwohl kein Beschäftigungsverhältnis zur konkret tätig gewordenen Ärztin bestand (sog. Strohmannmodell). Irrtum Der Tatbestand des Betrugs erfordert neben der Täuschung einen durch diese hervorgerufenen Irrtum. Dabei handelt es sich um eine Fehlvorstellung über Tatsachen. Der Getäuschte muss irrig davon ausgehen, dass der mitgeteilte Inhalt der Abrechnung zutrifft – dass also die Leistung formell und materiell ordnungsgemäß erbracht wurde. Der Bundesgerichtshof hat klargestellt: „Bei einem standardisierten, auf Massenerledigung angelegten Abrechnungsverfahren ist es nicht erforderlich, dass der jeweilige Mitarbeiter hinsichtlich jeder einzelnen geltend gemachten Position die positive Vorstellung hatte, sie sei der Höhe nach berechtigt; vielmehr genügt die stillschweigende Annahme, die ihm vorliegende Abrechnung sei insgesamt ‚in Ordnung‘.“  BGH, Urteil vom 22. August 2006 – 1 StR 547/05 Der Irrtum ist daher regelmäßig auch dann gegeben, wenn die Abrechnung nicht individuell geprüft wird. In der Praxis bedeutet das: Es genügt, wenn die Verrechnungsstelle oder die Kassenärztliche Vereinigung von der Richtigkeit der eingereichten Abrechnung ausgeht, ohne diese inhaltlich vollständig zu prüfen. Im privatärztlichen Bereich kann der Irrtum sowohl beim Patienten selbst als auch beim Sachbearbeiter der Krankenversicherung vorliegen. Auch bei bloßer Weiterleitung der Rechnung durch eine Abrechnungsstelle kann ein Irrtum beim Endempfänger angenommen werden – entscheidend ist allein, dass die Abrechnung zur Entstehung eines Irrtums beiträgt. Sonderkonstellationen: Wird die Abrechnung durch automatisierte Verfahren verarbeitet, ist fraglich, ob ein Irrtum im strafrechtlichen Sinn überhaupt entstehen kann. In solchen Fällen kann eher § 263a StGB (Computerbetrug) einschlägig sein. Wird der Sachbearbeiter bewusst getäuscht, obwohl er um die Unrichtigkeit weiß, kann der Irrtum gleichwohl gegeben sein, wenn das Wissen des Mitarbeiters dem abrechnenden System (z. B. Kasse) nicht zurechenbar ist. Vermögensverfügung und Vermögensschaden Die durch Täuschung und Irrtum veranlasste Vermögensverfügung stellt das Bindeglied zwischen dem Irrtum des Getäuschten und dem daraus resultierenden Vermögensschaden dar. Im Gesundheitswesen geschieht sie regelmäßig in Form der Zahlung oder Honorarfreigabe aufgrund der eingereichten Abrechnung. Im Bereich der Privatliquidation liegt die Verfügung in der Zahlung durch den Patienten oder durch seine private Krankenversicherung. Sobald der Patient die Rechnung begleicht oder sie zur Erstattung einreicht und der Versicherer diese übernimmt, ist die vermögensmindernde Verfügung vollzogen. Im GKV-System ist die Konstellation komplexer. Die vermögensrelevante Handlung kann sowohl bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) als auch bei der gesetzlichen Krankenkasse liegen – je nachdem, auf welcher Ebene die Abrechnung technisch freigegeben und vergütet wird. Der BGH lässt beide Varianten zu. Bemerkenswert ist, dass der Schaden – wirtschaftlich betrachtet – nicht zwangsläufig bei der KV oder der Krankenkasse eintritt, sondern faktisch bei den übrigen Vertragsärzten: Durch das gedeckelte System der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (§ 87a Abs. 3 SGB V) führt eine überhöhte Einzelabrechnung zu einer Minderung des Punktwerts für alle . Das unberechtigt vereinnahmte Honorar fehlt im kollektiven Honorartopf und senkt den Vergütungsanspruch der korrekt abrechnenden Kollegen. Auch bei medizinisch durchaus sinnvoll erbrachten Leistungen kann ein Vermögensschaden im juristischen Sinn vorliegen, wenn die formellen Voraussetzungen der Abrechenbarkeit fehlen. „Bei der Berechnung des Schadensumfanges geht das Landgericht zunächst zu Recht davon aus, dass auch für den Bereich nichtärztlicher Leistungen der den Krankenkassen entstandene Schaden in voller Höhe den dem Angeklagten erstatteten Beträgen entspricht. Dem steht nicht entgegen, dass Leistungen sowohl von dem Angeklagten (…) als auch von dem von ihm beauftragten Hilfspersonal (…) in weitem Umfang erbracht worden sind. Dies beruht auf einer für den Bereich des Sozialversicherungsrechts geltenden streng formalen Betrachtungsweise, nach der eine Leistung insgesamt nicht erstattungsfähig ist, wenn sie in Teilbereichen nicht den gestellten Anforderungen genügt (…).“  BGH, Beschluss vom 28. September 1994 – 4 StR 280/94 Diese Rechtsprechung setzt sich selbst dort fort, wo eine Leistung unstreitig medizinisch notwendig und lege artis erbracht wurde – sie aber wegen formaler Fehler (fehlende persönliche Leistungserbringung, unzulässige Delegation, fehlerhafte Abrechnung) als „wertlos“ angesehen wird. „Für privatärztliche Leistungen, für die es weder einen Verkehrswert noch einen (objektiven) Markt oder einen von den Vertragsparteien frei zu vereinbarenden Preis gibt, bestimmen die materiell-rechtlichen Normen zur Abrechenbarkeit der Leistung, namentlich der GOÄ, zugleich deren wirtschaftlichen Wert. (…) In dem Umfang, in dem die Rechtsordnung einer privatärztlichen Leistung die Abrechenbarkeit versagt (…), kann ihr kein (…) wirtschaftlicher Wert zugesprochen werden.“  BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1 StR 45/11 Diese Sichtweise steht in deutlichem Spannungsverhältnis zur wirtschaftlichen Realität und wird in der Literatur kritisch bewertet. Insbesondere ist sie ansich mit dem durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen zu einer rein normativen Betrachtung bei Vermögensdelikten schwer vereinbar: „Ein Vermögensnachteil im Sinne des § 266 StGB setzt zwingend einen Vergleich zweier Vermögenslagen voraus, bei dem sich eine Differenz ergeben muss. (…) Normative Erwägungen (…) dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings nicht überlagern oder verdrängen.“  BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08 u.a. „Zur Verhinderung der Tatbestandsüberdehnung muss (…) der Vermögensschaden (…) in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen dargelegt werden. (…) Normative Gesichtspunkte können eine Rolle spielen, dürfen aber nicht die wirtschaftliche Betrachtung verdrängen.“  BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10 Aus Verteidigungssicht ergibt sich hier ein bedeutsamer Ansatzpunkt: Der Nachweis eines tatsächlichen Vermögensschadens ist keineswegs trivial – gerade dann nicht, wenn der Leistungsempfänger durch die (wenn auch formfehlerhafte) Leistung objektiv einen Vorteil erhalten hat und keine (erneute) Inanspruchnahme eines anderen Arztes zu erwarten stand. Der BGH hat dieser Überlegung bisher nur begrenzt Raum gegeben. Zwar erkennt er im Rahmen der Strafzumessung die medizinische Sinnhaftigkeit der Leistung an – nicht aber bei der Schadensberechnung: „Auch eine Kompensation in der Form, dass die Krankenkassen infolge der von dem Angeklagten (…) erbrachten Leistungen Aufwendungen erspart haben, findet im Rahmen der Schadensberechnung nicht statt. Dieser beachtliche Umstand muss jedoch im Rahmen der Strafzumessung in angemessener Weise zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden.“  BGH, Beschluss vom 28. September 1994 – 4 StR 280/94 „Das Landgericht hat bei der Strafzumessung insbesondere erheblich zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass er fachgerechte ärztliche Behandlungen durchgeführt und objektiv die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht hat.“  BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 – 3 StR 161/02 Im Bereich der Privatabrechnung (z. B. gegenüber der Beihilfe oder PKV) hat der BGH bislang offen gelassen, ob bei objektiv erbrachten, aber formell nicht abrechenbaren Leistungen wenigstens auf Strafzumessungsebene mildernde Aspekte anzuerkennen sind. In seiner späteren Rechtsprechung zeigt sich jedoch eine Tendenz, dies abzulehnen – mit dem Argument, der Täter habe sich den Ausgleich ohne Rechtsgrundlage „eigenmächtig verschafft“: „Ob darüber hinaus bei der Strafzumessung (…) der Umstand tatsächlich erbrachter Leistungen (…) strafmildernd berücksichtigt werden muss (…), oder ob – wozu der Senat neigt – sich dies im Bereich privatärztlicher Liquidation (…) verbietet, (…) bedarf keiner abschließenden Entscheidung.“  BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1 StR 45/11 Diese Linie zeigt exemplarisch, wie weit sich die strafgerichtliche Bewertung von der medizinisch-praktischen Logik entfernt hat. Ein formeller Fehler im Abrechnungsgeschehen genügt heute vielfach, um einen vollendeten Betrugsschaden anzunehmen – auch wenn der Patient objektiv behandelt wurde und keine Alternativversorgung erforderlich war. Vorsatz und Bereicherungsabsicht Der Betrugstatbestand erfordert nicht nur die objektive Erfüllung der Tatbestandsmerkmale, sondern auch deren vorsätzliche Verwirklichung – ergänzt um die Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Fehlt es an einer dieser subjektiven Voraussetzungen, scheidet eine Strafbarkeit nach § 263 StGB aus. Einen fahrlässigen Betrug kennt das deutsche Strafrecht nicht. Irrtümer, Rechenfehler, unzutreffende Analogbewertungen oder auch mangelhafte interne Praxisorganisation mögen berufs-, zivil- oder vertragsarztrechtlich relevant sein – strafrechtlich führen sie aber nur dann zu Konsequenzen, wenn sie vorsätzlich begangen wurden und eine rechtswidrige Bereicherungsabsicht zugrunde liegt. Der Bundesgerichtshof betont, dass bereits bedingter Vorsatz genügt. Es reicht also aus, wenn der Täter die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes für möglich hält und diese billigend in Kauf nimmt – sog. „dolus eventualis“. Die besondere Herausforderung liegt in der inneren Tatseite . Ob ein Arzt bei einer konkreten Abrechnungssituation wusste oder zumindest für möglich hielt, dass er zur Abrechnung nicht berechtigt war, ist häufig nur schwer zu beweisen. Die bloße objektive Fehlerhaftigkeit der Abrechnung ersetzt den subjektiven Tatnachweis nicht. Dennoch sieht die Praxis der Ermittlungsbehörden häufig anders aus: Dort wird mitunter bereits aus der Systematik oder Häufung bestimmter Fehler ein Vorsatz abgeleitet. Indizien, aus denen Vorsatz konstruiert wird, sind etwa: das Fehlen jeglicher Begründung für erhöhte Steigerungsfaktoren, die systematische Verwendung unzulässiger Analogbewertungen, die Dauer und Regelmäßigkeit nicht persönlich erbrachter Leistungen bei gleichzeitiger Unterzeichnung durch den Arzt, interne Schulungsmaterialien oder organisatorische Anweisungen zur Erhöhung von Fallzahlen oder Scheinleistungen. Die Schwelle zum Vorsatz ist dann noch nicht überschritten, wenn sich etwa: eine Abrechnungsposition innerhalb eines Auslegungsspielraums der GOÄ oder EBM bewegt, formale Anforderungen objektiv unklar oder uneinheitlich geregelt sind, oder der Arzt sich zuvor auf eine sachkundige Auskunft (z. B. Abrechnungsstelle, Kassenärztliche Vereinigung, ärztlicher Abrechnungsberater) verlassen hat. Die Absicht rechtswidriger Bereicherung verlangt darüber hinaus ein zielgerichtetes Handeln auf einen Vermögensvorteil. Der Täter muss nicht nur mit der Zahlung rechnen, sondern diese als eigene Bereicherung anstreben – im Wissen, dass ihm der Betrag tatsächlich nicht zusteht. Im Unterschied zum Vorsatz, der sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen muss, ist die Bereicherungsabsicht ein überschießendes Element und erfordert zielgerichtetes Wollen. Die Beweisbarkeit dieser Voraussetzungen ist – insbesondere bei Ärzten ohne Vorstrafen und mit plausibler Dokumentation – häufig schwach. Der BGH hat dennoch klargestellt, dass auch ein konkludentes Verhalten, aus dem sich eine Akzeptanz der rechtswidrigen Vorteilszuwendung ergibt, genügen kann: „Wer eine Leistung einfordert, bringt damit zugleich das Bestehen des zugrunde liegenden Anspruchs (…) hier also die Abrechnungsfähigkeit der in Rechnung gestellten ärztlichen Leistung zum Ausdruck.“  BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1 StR 45/11 Auch hier gilt jedoch: Die objektive Inanspruchnahme einer Zahlung ersetzt den subjektiven Tatnachweis nicht. Vielmehr müssen die Ermittlungsbehörden zumindest konkrete Indizien beibringen – etwa durch: Aussagen von Angestellten zur internen Abrechnungspraxis, Äußerungen des Beschuldigten selbst (Vernehmung, informatorische Gespräche), Dokumente mit Hinweis auf bewusste Umgehung von Abrechnungsvorgaben. Für die Verteidigung ergeben sich hier entscheidende Ansatzpunkte: Der Nachweis des subjektiven Tatbestandes ist nicht trivial – insbesondere dann, wenn die Abrechnung zwar objektiv unzutreffend war, sich aber in einem rechtlich nicht eindeutig geregelten Bereich bewegt oder die Abweichung plausibel erklärbar ist. Eine bewährte Verteidigungsstrategie besteht daher darin, frühzeitig den Kontext der Abrechnungsentscheidung zu rekonstruieren – inklusive der betriebsinternen Organisation, etwaiger Delegation und bestehender Dokumentation zur ärztlichen Tätigkeit.